Werk der Woche – Han Lash: Zero Turning Radius
- By Christopher Peter
- 25.04.2025
Kann ein Rasenmäher eine musikalische Idee liefern? Im Fall des neuen Orchesterwerks Zero Turning Radius von Han Lash (Foto) lautet die Antwort: ja. Der Titel bezieht sich auf einen Null-Wendekreis-Rasenmäher – ein Gefährt, das auf der Stelle drehen kann. Tatsächlich kam Han Lash die Idee zu diesem Stück beim Mähen des Rasens mit eben so einer wendigen Maschine. Hinter der kuriosen Inspiration steckt eine ernsthafte Frage: „Wie kann das Orchester weiterhin relevant sein?“. Diese Frage markierte den Ausgangspunkt der Komposition. Lash wollte bewusst gewohnte Begrenzungen aufheben („Ich muss jetzt mein Möglichstes tun, um einen begrenzenden Rahmen zu entfernen“) und schickt mit Zero Turning Radius zugleich „ein Gebet an die Zukunft“: Das Orchester – in Lashs Augen ein „schönes, vielgliedriges, amphibisches Wesen“ – möge auch künftig „eine Spielwiese für Musiken sein, die noch unvorstellbar sind“. Mit anderen Worten: Dieses Werk soll zeigen, dass ein Orchester heute ein lebendiges Labor für neues Klangabenteuer sein kann.
Das Orchester als Klangwesen
In Zero Turning Radius entfaltet sich das Bild des Orchesters als eines mächtigen, beweglichen Klangwesens. Lash beschreibt das Stück als „die Freude, ein kraftvolles, riesiges und flinkes Gebilde wie ein Orchester zu steuern“, das „sich zu bewegen und zu tanzen, sich auf der Stelle zu drehen“ vermag. Entsprechend sprüht die Komposition vor agilem Wechsel und Dynamik – als würde ein riesiges Klangfahrzeug mit Null-Wendekreis durch wechselnde musikalische Landschaften manövriert. Schon die Satzüberschriften verraten augenzwinkernd die Herkunft der Idee: Das fünfsätzige Werk trägt Titel wie Slow Movement with Weeds (Rhizome) oder Interlude: Edging, Anspielungen auf Unkraut und Rasenkanten, bis hin zum Finale Laugh-Ride, einer vergnüglichen Klang-„Fahrt“. Als Concerto for Orchestra angelegt, fordert Zero Turning Radius alle Orchestergruppen virtuos heraus. Traditionelle Rollen verschwimmen – das Orchester selbst rückt als Ganzes solistisch ins Rampenlicht. Dabei lotet Lash eine neue Stufe der Orchesterbehandlung aus: Gewaltige Tutti-Passagen und fein ziselierte Klänge stehen nebeneinander und demonstrieren die enorme Spannweite dieses „Klangwesens“.
Han Lash in der neuen Musik
Han Lash (geb. 1981) gehört zu den spannendsten Stimmen der zeitgenössischen Musikszene in den USA. Lashs Werke – von Solostücken über Kammeropern bis zu Orchesterkompositionen – werden in bedeutenden Hallen wie der Carnegie Hall oder dem Walt Disney Concert Hall aufgeführt. Die New York Times lobt Lashs Musik als „markant und einfallsreich … auf anmutige Weise düster“ (musicalamerica.com). Zahlreiche renommierte Orchester und Festivals haben Aufträge an Lash vergeben, darunter das Boston Symphony Orchestra und die Los Angeles Chamber Orchestra. Neben der kompositorischen Tätigkeit ist Lash auch eine versierte Harfenistin und trat schon häufig mit eigenen Werken auf. Lash hat an führenden Institutionen wie Yale und der Indiana University gelehrt und prägt damit auch die nächste Komponist:innengeneration. Mit unkonventionellen Ideen – wie der Rasenmäher-Inspiration von Zero Turning Radius – und einem Gespür für klangliche Visionen bereichert Han Lash die heutige Neue-Musik-Landschaft.
Uraufführung in Boston
Nach intensiver Probenarbeit steht nun die Uraufführung von Zero Turning Radius bevor. Das Boston Modern Orchestra Project (BMOP), ein führendes Orchester für neue Musik, hat das Werk in Auftrag gegeben und bringt es am 4. Mai 2025 in Boston zur Weltpremiere. In der Jordan Hall des New England Conservatory wird BMOP unter der Leitung von Gil Rose dieses klangvolle „Null-Wendekreis“-Abenteuer präsentieren. Das Konzert – passenderweise Turning Point betitelt – feiert die Wandlungsfähigkeit des Orchesters und stellt neben Lashs Opus auch neue Werke von Chris Theofanidis und Jeremy Gill vor. Man darf gespannt sein, wie das Publikum auf Lashs visionäre Fahrt ins orchestrale Neuland reagieren wird.
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Weitere Informationen
Zero Turning Radius: Werkseite mit Onlinepartitur
Boston Modern Orchestra Projekt "Turning Point"
photo: Ryan Scherb, Adobe Stock/grinny