Von Mingus bis Berklee: Die musikalische Reise von Bassist Bruce Gertz
- By Patrick Hinsberger
- 16.04.2025
Bruce Gertz ist ein renommierter Kontrabassist und unterrichtet seit 48 Jahren als einflussreicher Professor am Berklee College of Music. Als Teil der lebendigen Jazzszene Bostons hat er unzählige Bassist:innen geprägt – durch eine persönliche Lehrmethode, die darauf setzt, individuelle musikalische Stimmen zu fördern und auf den Stärken der Studierenden aufzubauen.
Was treibt einen Musiker an, der mit Jazzgrößen wie Jerry Bergonzi, Gary Burton und John Abercrombie zusammengearbeitet hat? Wie hat das Album Blues & Roots von Charles Mingus seine musikalische Ausrichtung verändert – und warum nimmt er auch nach fünf Jahrzehnten am Bass noch Unterricht bei der Legende Ron Carter? Diese Einblicke hat Gertz in unserem Gespräch geteilt.
Neben seiner Konzerttätigkeit hat Gertz über 15 Alben als Bandleader veröffentlicht und an vielen weiteren als Sideman mitgewirkt. Sein Debütalbum Blueprint markierte einen wichtigen Meilenstein seiner Karriere. Sein Lehrbuch Let’s Play Rhythm gilt inzwischen als Standardwerk für angehende Musiker:innen aller Instrumente. Ob beim Vermitteln fortgeschrittener Improvisationstechniken oder bei seinem Engagement für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Ensemble- und Solospiel – etwa durch seine Arbeit mit der International Society of Bassists – inspiriert Gertz bis heute die nächste Generation von Jazzmusiker:innen.
Musikalische Reise und die Entwicklung der Jazzpädagogik
Sie begannen im Alter von zehn Jahren Gitarre zu spielen und wechselten später zum E-Bass, bevor Sie schließlich zum Kontrabass fanden. Was hat Sie letztlich dazu bewegt, sich auf den Kontrabass zu spezialisieren?
Nachdem ich 1966/67 von der Gitarre auf den E-Bass umgestiegen war und ein paar Jahre lang in Rock- und Bluesbands gespielt hatte, kam ein junger Saxophonist in unsere Band. Er sagte, ich solle mir Bassisten wie Ron Carter, Ray Brown, Paul Chambers und Charles Mingus anhören. Unser Pianist schenkte mir das Album Blues and Roots. Als ich hörte, wie Mingus den Blues spielte, war ich völlig überwältigt. Ich begann, die Basslinien und Solo-Fills vom Album herauszuhören und spielte sie auf meinem Fender Precision Bass nach. Je mehr ich hörte und mich damit beschäftigte, desto mehr wollte ich den Klang des Kontrabasses erzeugen – so wie auf den Platten.
1972 kam ich nach Berklee und bekam John Neves als Lehrer zugewiesen, einen angesehenen Jazzbassist, der in den 1950ern als Hausbassist beim Newport Jazz Festival gespielt hatte. John war leidenschaftlich daran interessiert, mich zu unterrichten. Nach einem Semester verkaufte er mir meinen ersten Kontrabass. Später erinnerte er sich daran, wie aufgeregt ich war und wie er mich vom Fenster der Schule aus beobachtete, als ich ohne Hülle mit dem Bass die Straße hinunterlief. Es war ein deutscher 3/4-Bass – kein teures Instrument, aber es ließ sich gut spielen und klang gut. Samstags gab er mir lange Unterrichtseinheiten von ein bis drei Stunden. Dort lernte ich, wie und was ich üben musste – das inspirierte mich enorm. Ich übte täglich 6–8 Stunden, fast zwei Jahre lang, vor allem Lesen und Bogentechnik.
Als ich später im Raum neben John unterrichtete, wurden wir enge Freunde. Er war ein wichtiger Einfluss in meiner Entwicklung. In den späten 1970ern und 80ern vermittelte er mir Gigs mit Künstlern wie George Shearing, Helen Humes, Ray Bryant und Alan Dawson. Den E-Bass liebte ich nach wie vor und spielte ihn in Ensembles und bei vielen Gigs. Als sich herumsprach, dass ich auch Kontrabass spielte, bekam ich immer mehr Jazzjobs, Aufnahmen und Proben. Ich liebe beide Instrumente bis heute, arbeite aber aktuell vor allem mit dem Kontrabass.
Sie sind seit 1976 Professor am Berklee College of Music. Wie hat sich Ihrer Meinung nach der Jazzunterricht im Laufe der Jahrzehnte verändert?
Das ist eine oft gestellte und sehr gute Frage. Ich habe beobachtet, dass sich mit dem Aufkommen neuer populärer Stilrichtungen auch die populäre Musik verändert und neue Elemente aufgenommen werden. Seit Beginn meiner Karriere ist die musikalische Ausbildung wesentlich vielfältiger und breiter geworden. Die Technologie hat alles verändert – YouTube, Instagram und andere Online-Videos beeinflussen die Art und Weise, wie junge Musiker:innen lernen. Viele haben kaum ein Gefühl dafür, woher die Musik eigentlich kommt. Ich frage meine Studierenden oft: Wo haben eure Vorbilder gelernt? Und wer waren deren Vorbilder? Häufig wissen sie das nicht.
Jazz hat tiefe historische Wurzeln. Wer z. B. an einer Highschool in einer guten Jazzband oder einem Orchester spielt und gute Mentoren hat, bringt oft mehr Fundament mit ins Studium. Junge Musiker:innen sind oft sehr fasziniert von Technik – das war bei mir auch so. Später entwickeln sie dann häufig einen ausdrucksstärkeren Zugang zur Musik.
Ich erinnere mich gut daran, wie ich als Student lernen musste, richtig zuzuhören und Noten zu lesen. Live-Auftritte bekannter Jazzgrößen zu erleben, war prägend. Ich habe Charles Mingus im Jazz Workshop in Boston gesehen – sein Spiel und seine Leitung waren beeindruckend. Auch seine Kompositionen haben mich stark beeinflusst, weshalb ich schließlich Komposition und Arrangement in Berklee studierte.
Die beste Methode, Kontrabass-Technik zu lernen, war damals der klassische Unterricht. Improvisation musste man sich durch das Mitspielen zu LPs beibringen – es gab kaum Kurse dafür.
In Berklee gab es allerdings einen Kurs namens „Melody and Improvisation“, unterrichtet von John LaPorta, der mit Mingus gespielt hatte. Er legte großen Wert auf Artikulation – beeinflusst vom Swing-Zeitalter, in dem Musiker wie Lester Young oder Ben Webster musikalisch wie sprechend auf ihren Instrumenten klangen. Das war noch vor Bebop. Diese Lektionen waren für meinen musikalischen Ausdruck besonders wertvoll.
Gleichzeitig veränderte Miles Davis seinen Stil mit Bitches Brew in Richtung Rock. John Coltrane ging seinen eigenen spirituellen Weg. Künstler wie Chick Corea, Herbie Hancock, Wayne Shorter, Ornette Coleman, Jaco Pastorius und Dave Holland beschritten ebenfalls neue Wege. Berklee wurde damals oft als „Chord Factory“ bezeichnet, weil viele Gitarristen dort studierten. Heute dominieren Sänger:innen – beeinflusst durch Medien und TV. Das heißt aber nicht, dass instrumentale Musik an Bedeutung verloren hat – vielmehr zeigt es, wie stark Medien unsere Interessen beeinflussen.
Musikalische Einflüsse, Zusammenarbeit und wichtige Stationen
Das Album Blues & Roots von Charles Mingus hatte einen prägenden Einfluss auf Sie. Was hat Sie daran besonders inspiriert und wie spiegelt sich das in Ihrem Stil wider?
Blues and Roots war eines meiner ersten Jazzalben – es war womöglich der Auslöser, warum ich auch Komponist und Bandleader werden wollte. Ebenso inspirierend waren Cannonball & Coltrane. Durch wiederholtes Hören dieser Alben konnte ich sie nahezu auswendig – wie eine gespeicherte Aufnahme in meinem Kopf. Nachdem ich die Linien auf meinem Bass geübt hatte, wurden sie Teil meines musikalischen Vokabulars. Kombiniert mit der Musik, die ich über Jahrzehnte aufgenommen habe, entwickelte ich daraus meinen eigenen Stil. Ich habe inzwischen die berüchtigten „10.000 Stunden“ weit überschritten – es sind inzwischen über 50 Jahre Spielpraxis.
Sie haben mit Jazzgrößen wie Gary Burton, Jerry Bergonzi und John Abercrombie gearbeitet. Im Vorgespräch erwähnten Sie, dass Sie kürzlich eine Unterrichtsstunde bei Ron Carter genommen haben. Welche Begegnung oder Zusammenarbeit hat Sie musikalisch und persönlich am meisten geprägt – und warum?
Zusammenarbeit ist eine der prägendsten Erfahrungen – sie findet im echten Leben statt. Früher geschah alles live, heute werden viele Projekte online realisiert. Am meisten beeinflusst hat mich wahrscheinlich die langjährige musikalische Freundschaft mit Jerry Bergonzi. Wir sind seit über 45 Jahren musikalisch verbunden. Wir haben geprobt, aufgenommen, getourt, lokale Gigs gespielt – unsere Kompositionen und Standards. Gespräche über Musik und gemeinsames Hören unserer Lieblingsplatten waren ein Geschenk.
Gary Burton war ein früher Mentor während meiner Studienzeit in Berklee – daraus entstanden gemeinsame Reisen, Auftritte, Unterricht. John Abercrombie lernte ich über Mick Goodrick kennen, mit dem ich häufig spielte. Als Abercrombie Mike Stern in unserer Band Con Brio ersetzte, begann unsere Zusammenarbeit. Zwischen 1982 und 1988 nahm ich Privatunterricht bei Charlie Banacos – das war eine Offenbarung. Und auch meine jüngsten Stunden bei Ron Carter haben meine Spielweise erneut verändert. Ron erzählte mir, dass er mit Charlie und John LaPorta befreundet war.
Gab es ein Konzert oder eine Aufnahme in Ihrer Karriere, das für Sie ein Wendepunkt war?
Meine erste Aufnahme als Bandleader 1991 – Blueprint mit John Abercrombie, Jerry Bergonzi, Joey Calderazzo und Adam Nussbaum – war ein Meilenstein. Ich lizenzierte sie an das französische Label Freelance Jazz. Damit bewarb ich mich erfolgreich für ein Stipendium des National Endowment for the Arts 1992. Ich konnte ein Theater und einen Steinway-Flügel mieten. Zufällig bekam ich gleich ein weiteres Konzert am nächsten Abend in New Hampshire. Ich engagierte meinen Freund und Toningenieur Peter Kontrimas, um beide Konzerte aufzunehmen.
Kurz danach nahm ich mit Mick Goodrick Sunscreams (RAM Records) auf. Ich gab Raimondo Meli Lupi (RAM) meine besten Konzertaufnahmen – er bot mir sofort an, das Material zu veröffentlichen. Daraus entstand mein zweites Album Third Eye. Es folgten weitere Aufnahmen und Gigs. 1994 veröffentlichte RAM mein drittes Album Discovery Zone. 1995 war die Lizenz für Blueprint ausgelaufen und ich verkaufte es an Evidence Music, wo es neu aufgelegt wurde und erneut hervorragende Kritiken erhielt. Alle drei Alben öffneten neue Türen. Die Band spielte über 15 Jahre hinweg – bis 2007. Wir traten auch bei mehreren I.A.J.E.-Konferenzen in New York auf. Diese Alben waren wichtige Bausteine meines Weges als Komponist, Bassist und Bandleader. Heute habe ich über 20 Alben als Leader veröffentlicht und rund 50 als Sideman.
Bruce Gertz' Lehrphilosophie
Sie haben in Ihrer langen Lehrtätigkeit an Berklee unzählige Bassist:innen ausgebildet. Was sind die Grundprinzipien Ihrer Lehrmethode und wie fördern Sie die Entwicklung individueller musikalischer Stimmen?
In meinen 48 Jahren als Lehrer in Berklee habe ich zahllose Bassist:innen ausgebildet. Meine Grundprinzipien sind:
a.) Einschätzen, wo die Studierenden in ihrer Entwicklung stehen, und Lücken identifizieren.
b.) Ziele setzen – dabei die Stärken der Studierenden nutzen und sie ermutigen, das weiterzuverfolgen, was ihnen Freude bereitet. Das ist zentral, um ihre eigene musikalische Stimme zu entwickeln und Selbstvertrauen aufzubauen.
c.) Vermitteln, was und wie man übt, damit sie ihre Ziele erreichen und kreative, arbeitsfähige Musiker:innen werden.
Sie betonen, wie wichtig ein starkes Selbstbild für Musiker:innen ist. Wie helfen Sie Ihren Studierenden, Selbstvertrauen und eine positive Selbstwahrnehmung aufzubauen?
Ich stimme alle Übungen individuell auf die Studierenden ab. Mittlerweile erkenne ich schnell, wo jemand Schwierigkeiten hat, und entwickle gezielte Übungen zur Überwindung. In meinen Unterricht baue ich meine Bücher zu Technik und Gehörbildung ein. Ich empfehle dringend, eigene Basslinien, Fills und Soli zu schreiben, zu lesen und zu spielen. Das fördert Kreativität und Lesefähigkeit. Ich bin stolz darauf, dass einige bekannte Bassist:innen und viele Professor:innen in Berklee und an anderen Schulen zu meinen früheren Schüler:innen gehören.
More on "Let's Play Rhythm"
Als Autor mehrerer Lehrbücher haben Sie Ihr Wissen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Wie integrieren Sie die Inhalte dieser Werke in Ihren Unterricht, und welches Feedback erhalten Sie von Ihren Studierenden?
Mein Buch Let’s Play Rhythm ist für alle Instrumente gedacht. Ich habe großartiges Feedback von Menschen erhalten, die damit gearbeitet haben. Über viele Jahre hinweg habe ich den Kurs Advanced Improvisation for Bass unterrichtet, den ich selbst entwickelt habe. Viele der Konzepte, die ich dort vermittelt habe, sind schließlich in das Buch eingeflossen. Es wurde später sogar zur Pflichtlektüre für den Kurs.
Angesichts des sich ständig wandelnden musikalischen Umfelds: Welche Fähigkeiten und welches Wissen halten Sie heute für unerlässlich für angehende Jazzbassist:innen, und wie bereiten Sie Ihre Studierenden darauf vor?
Auch wenn sich das musikalische Umfeld ständig weiterentwickelt, bleiben die grundlegenden Fähigkeiten für Jazzbassist:innen dieselben. Die Funktion des Basses ist in einem Ensemble eine andere als im solistischen Kontext. Heute treten Bassist:innen immer häufiger auch als Solist:innen auf. Als langjähriges Mitglied der International Society of Bassists habe ich unglaubliche Solo-Performances erlebt. Ich empfehle daher unbedingt, sowohl Ensemble- als auch Solo-Auftritte zu hören und – wenn möglich – live zu erleben.