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Aribert Reimann 1936–2024

"Ich wusste, ich werde ein Außenseiter sein"

Zum Tod des Komponisten Aribert Reimann

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Aribert Reimann, einer der profiliertesten Komponisten der Nachkriegsgeneration, ist im Alter von 88 Jahren gestorben. 

Reimann entstammte einer Berliner Musikerfamilie. Die Mutter war Sängerin, der Vater Professor für Kirchenmusik und Leiter des Berliner Domchores. Ein protestantisch geprägtes Elternhaus mit besten Verbindungen, in dem früh der Grundstein für eine Karriere als Liedbegleiter gelegt wurde. Bei einem Hauskonzert hatte Reimann, der die Schüler der Mutter begleitete, den Pianisten Michael Raucheisen kennengelernt, der ihm wichtige Impulse gab. An der Berliner Hochschule hörte der junge Student später Kontrapunkt bei Ernst Pepping, sein Kompositionslehrer wurde Boris Blacher. Der gehörte einer sachlichen Moderne an, bestärkte aber seinen Schüler bald darin, eine "eigene Sprache" zu finden.

Aribert Reimann fand sie schon früh, seine eigene Sprache. Sie war anders als die Sprache der Generation Blachers, anders aber auch als die strikte Linie, die damals aus Darmstadt vorgegeben wurde. Zehn Jahre jünger als z.B. Hans Werner Henze, konnte Reimann sich aus den direkten Auseinandersetzungen zwar heraushalten, die Entscheidung, sich nicht einer Schule anzuschließen, war indes auch für ihn alles andere als leicht. Aribert Reimann wurde zum Einzelgänger, dessen konsequenter Weg über Jahrzehnte hinweg eine ganz eigene Individualität ausprägte.

Als einer der ersten vertonte Aribert Reimann Texte Paul Celans, den er 1957 in Paris kennenlernen durfte. Dem hohen artifiziellen, vor allem aber auch moralischen Anspruch dieser Gedichte "nach Auschwitz" wurde Reimann kongenial gerecht. Eine Scheu vor dem hohen Ton dieser und anderer Texte der großen Literatur, die Reimann mit Vorliebe heranzog, kannte er nicht, – ging es ihm doch keinesfalls um ein unbedachtes bloßes Vertonen, sondern um ein selbstkritisches Ringen um eine authentische musikalische Sprache als Reflexion ihrer eigenen Geschichtlichkeit.

Reimann war grundsätzlich kein politischer Komponist, dennoch fehlt auch in seinem Oeuvre nicht die Auseinandersetzung mit brennenden Fragen, wie das 1974 zu Zeiten des Vietnamkrieges entstandene Requiem Wolkenloses Christfest eindrucksvoll beweist. Dennoch war es eine zeitlose Aktualität, die Reimann anstrebte, keine vermeintliche Teilhabe am Tagesgeschehen. Seine Stoffe, die Opernsujets zumal, entnahm er daher meist dem Kanon der Weltliteratur.

Allen vermeintlichen Unmöglichkeiten der Gattung zum Trotz, schrieb Reimann Opern: er erzählte Geschichten, vertraute auf die unzerstörbare Magie des Wortes und vor allem der menschlichen Stimme. Mit Melusine (1970), Troades (1985), Bernarda Albas Haus (1998/2000) und Medea (2007/09) brachte er große tragische Frauenfiguren auf die Bühne. Die ehrliche Empathie und Humanität seines musiktheatralischen Ansatzes zog das Publikum dabei immer wieder in den Bann.

Der große Durchbruch gelang Reimann 1978 mit seiner Oper Lear. Dietrich Fischer-Dieskau hatte sie angeregt und bei der Uraufführung in München auch die Titelrolle verkörpert. Das Werk hat danach einen exzeptionellen Siegeszug über die Bühnen der Welt angetreten und erscheint uns heute frischer denn je. Von gewaltigen Klangballungen bis hin zu filigransten Ruhemomenten reicht Reimanns Palette, der eine höchst eindrückliche musikalische Sprache für das abgründige Thema des Werks findet: "die Isolation des Menschen in totaler Einsamkeit, der Brutalität und Fragwürdigkeit allen Lebens ausgesetzt".

Reimanns Werke, die seit 1960 exklusiv bei Schott Music erscheinen, waren im Laufe der Jahre immer auch eine Anregung für jüngere Komponisten-Kollegen, wie Wolfgang Rihm in seiner Laudatio zu Reimanns 80. Geburtstag in der Deutschen Oper Berlin freimütig bekannte. So für die Stimme schreiben, das könne eben nur Reimann, dessen Gespür für "Kantabilität und Ökonomie" ohnehin vorbildlich seien.

In der Tat ist Reimanns musikalische Sprache geprägt von dieser Dialektik. In ihr herrscht absolute Kontrolle des Materials bei gleichzeitigem Streben nach größtmöglicher Freiheit und Öffnung. Reimann beherrschte selbstverständlich serielle und dodekaphone Techniken, nutzte Mikropolyphonie und Clusterbildungen als Kompositionsmittel, doch erwuchs auf dem handwerklich stets untadeligen Fundament immer ein individuelles Werk im emphatischen Sinne, das weit über seine Konstruktion hinausweist. Reimann blieb einem strengen Werk- und Formbegriff treu, doch wo linear entwickelte Verläufe und logische Strukturen einerseits Halt geben, suchte der Komponist gleichzeitig nach größtmöglicher Freiheit z.B. im Metrum und der Notation.

Die Bandbreite seines instrumentalen Komponierens reicht vom unbegleiteten Solo (z.B. für Cello, Klarinette, Oboe) über Kammermusik und Solokonzerten, wie z.B. den zwei Klavierkonzerten (1961, 1972) und dem Violinkonzert für Gideon Kremer (1995/96) bis hin zu großen orchestralen Formen, wie den Variationen für Orchester (1975) oder den Zeit-Inseln (2004). Traditionsbeladene Gattungen wie die Sinfonie oder das Streichquartett vermied Reimann hingegen.

Seine Meisterschaft im Umgang mit der menschlichen Stimme hatte sich Reimann in der Zusammenarbeit mit berühmten Sängern wie Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Grümmer und Brigitte Fassbaender erarbeitet. Als Liedpianist spielte er zahllose Aufnahmen ein, die seine ungewöhnliche Repertoire-Breite dokumentieren, als äußerst produktiver Lied- und Opernkomponist schrieb Reimann seinen oft jungen Sängern virtuose aber nie unsangliche Partien auf den Leib, und nicht zuletzt hat Reimann als Hochschullehrer in Hamburg und Berlin regelrecht eine neue Sängergeneration geprägt, für die zeitgenössische Musik von Anfang an einen festen Platz im Repertoire hat.

Aribert Reimann verstarb am 13.03.2024 in Berlin, wie wir aus dem Kreis seiner Familie erfuhren. Den Deutschen Musikautor:innenpreis der GEMA für sein Lebenswerk konnte er bei seinem letzten öffentlichen Auftritt am 8. Februar 2024 entgegennehmen. Dankbar nehmen wir Abschied von einem großen Künstler, dessen empathische Menschlichkeit in seinen Werken fortleben wird.

Aribert Reimann: Preis für das Lebenswerk

Aribert Reimann mit GEMA-Preis (photo: Daniel Mayer)

Aribert Reimann wird mit dem Deutschen Musikautor:innenpreis der GEMA für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Die Preisverleihung findet am 8. Februar 2024 in Berlin statt. Die Jury würdigt damit "seine anhaltende künstlerische Brillanz, sein einzigartiges Werk und seinen bedeutenden Beitrag zur zeitgenössischen Musikkultur."

Weiter heißt es in der Jury-Begründung:

"Aribert Reimann hat kompromisslos seine eigene musikalische Sprache entwickelt, die die Hörer:innen in ihrer Verbindung von Expressivität und Klarheit emotional und intellektuell erreicht, aufrüttelt und anrührt. Die Nähe zur menschlichen Stimme macht die Vokalmusik und das Musiktheater zu einem Schwerpunkt seines umfassenden Schaffens. Aribert Reimann konfrontiert uns darin mit den Bedingungen der menschlichen Existenz und ihren Gefährdungen und eröffnet damit einen Raum für Empathie."

Der Deutsche Musikautor:innenpreis wurde 2009 von der GEMA ins Leben gerufen, um die Komponist:innen und Textdichter:innen der deutschen Musikbranche für ihre herausragenden Leistungen zu würdigen.  

Werk der Woche – Aribert Reimann: Lear

Als erste Premiere vor Publikum in diesem Jahr zeigt die Bayerische Staatsoper am Pfingstsonntag, dem 23. Mai 2021 die Oper Lear von Aribert Reimann. Das Stück gilt als wichtigste Shakespeare-Vertonung des 20. Jahrhunderts und ist am Ort ihrer Uraufführung 1978 in einer Neuinszenierung von Christoph Marthaler zu sehen. Vor 53 Jahren bekleidete der berühmte Liedsänger Dietrich Fischer-Dieskau die Titelrolle, ihm folgt nun Christian Gerhaher, dessen destinguierter Liedgesang ihn zur Idealbesetzung für die Partie macht. Unter der Leitung von Jukka-Pekka Saraste stehen in weiteren Rollen Hanna-Elisabeth Müller, Ausrine Stundyte und Angela Denoke als Lears Töchter sowie Edwin Crossley-Mercer, Ivan Ludlow, Jamez McCorkle, Brenden Gunnell, Georg Nigl und Andrew Watts auf der Bühne.

Ab 1968 legte Dietrich Fischer-Dieskau dem Komponisten, Reimann war sein langjähriger Liedbegleiter, immer wieder die Tragödie von William Shakespeare als Opernvorlage nahe. Zwar fesselte die Geschichte den Komponisten von Anfang an, er sah sich dem Stoff aber erst vier Jahre später gewachsen. Für das Libretto wandte sich Reimann an Claus H. Henneberg, mit dem er vorher schon erfolgreich zusammengearbeitet hatte, unter anderem bei der Oper Melusine. Reimann selbst nennt drei musikalische Inspirationsquellen für Lear: Anton von Webern, der ihn Präzision lehrte, Alban Berg, dessen Expressivität er sich zum Vorbild nahm, und die Musik Indiens, die ihn rhythmisch beeinflusste. Um genügend Spielraum für seine hochkomplexen Klangflächen zu schaffen, verlangt der Komponist in einem 83-köpfigen Orchester alleine 48-fach besetzte Streichinstrumente.

Aribert Reimanns Lear: Eine Metamorphose als Spiegel unserer Zeit
Ich entdeckte in diesem Stück immer mehr Konstellationen, die mir als Gleichnis unserer Zeit erschienen. Alle diese Dinge, die sich da ereignen, können sich immer ereignen. – Aribert Reimann

König Lear will das Reich unter seinen drei Töchtern verteilen. Diejenige, die ihn am meisten liebt, soll den größten Teil erhalten. Cordelia, die für die Liebe zu ihrem Vater keine Worte findet, wird verbannt und verlässt mit dem König von Frankreich das Land. Kent, der Lears Entscheidung missbilligt, wird geächtet. Die beiden älteren Töchter und ihre Ehemänner teilen sich das Erbe. Am Ende kauert der wahnsinnige und verlassene Lear über Cordelias Leiche und folgt seiner Tochter schließlich ins Jenseits.
Zweieinhalb Stunden lang wird das Publikum aus dem Orchestergraben heraus gebannt: mit Tontrauben aller Intensitätsgrade, Vierteltonreibungen, minutenlang stehenden und sich drehenden Klangflächen, Blechballungen von monströser Härte, verwirrenden rhythmischen Verschiebungen, lyrischem Innehalten solistischer Stimmen. Diese Klangmittel werden zur scharfen Charakterisierung – von Figuren, Ausdruckshaltungen, Situationen – eingesetzt, nie als bloße Materialdemonstration. – Wolfgang Schreiber

Nach der Premiere steht zum jetzigen Zeitpunkt nur eine weitere Aufführung am 26. Mai fest. Drei weitere Vorstellungen sind aber für die verbleibende Spielzeit geplant, darüber hinaus soll die Produktion im Juni auf Staatsoper.TV als Video on Demand verfügbar sein. Bitte informieren Sie sich diesbezüglich auf der Website der Bayerischen Staatsoper.

 

Fotos: Gaby Gerster (Portrait Reimann); © Adobe Stock / Inmaculada (Hintergrund)

Werk der Woche - Aribert Reimann: Fragments de Rilke

Auf die Suche nach dem „secret de la vie“, dem Geheimnis des Lebens begibt sich das neue Werk Fragments de Rilke von Aribert Reimann, das am 23. Februar 2019 in der Berliner Philharmonie uraufgeführt wird. Der Zyklus für Sopran und Orchester entstand als Auftragskomposition des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, das das Werk im Rahmen seines Festivals „Brahms-Perspektiven“ auch zum ersten Mal aufführen wird. Die Sopranpartie singt Rachel Harnisch, am Pult steht Chefdirigent Robin Ticciati.

Während der Entstehung seiner bis dato letzten Oper „L‘Invisible“ (2011-2017) begann Reimann, sich mit den französischen Fragmenten von Rainer Maria Rilke auseinanderzusetzen. In seinem Œuvre finden sich bereits Vertonungen einiger dieser Texte für Singstimme und Klavierbegleitung; mit den neuen Orchesterliedern erweitert Reimann nun das Klangspektrum in der Begleitung.

Aribert Reimann: Fragments de Rilke – Gedanken über das Menschsein


Rilke schrieb die Texte, die Reimann für seine neuesten Lieder ausgewählt hat, im Zeitraum von 1911 bis 1926 in Italien, Frankreich und der Schweiz. Sie thematisieren den Kern des Menschseins und fragen, was das Leben prägt, ob es das Schicksal, die Liebe oder etwas Göttliches sein könnte. Als gedankliches Ziel beschreibt Reimann das letzte Fragment „Profond amour qui de la terre s’élève“ (Tiefe Liebe, die von der Erde sich erhebt).

Fragments de Rilke besteht aus einem Prélude, 12 Fragmenten und Zwischenspielen. Die Übergänge zwischen den einzelnen Teilen sind fließend, obwohl  Reimann jedes der Fragmente mit einer eigenen Klanglichkeit ausstattet. Im fünften Fragment etwa vermittelt er durch ein schnelles Tempo und viele Taktwechsel eine unregelmäßig-fließende Lebendigkeit, die noch von einer leisen Begleitung der Holzblasinstrumente verstärkt wird. Das neunte Fragment hingegen steigert sich zu einem Tutti-Fortissimo. Zum Ende hin lässt Reimann die Musik wieder zur Ruhe kommen, wenn lange Notenwerte und eine reduzierte Dynamik das Geschehen prägen und auch das Tempo langsamer wird.
„Alles was geschieht,
setzt
eine Maske auf unser Antlitz, das nie
wagt endgültig zu sein.
[…]
Wind, welcher Erinnerung, welchen Lebens Wind
legte im Vorüberfliegen eine Maske auf mein Sein“
(Fragments V und VI)

In der Einführung zum Uraufführungskonzert von Fragments de Rilke wird Reimann mit dem Musikwissenschaftler Habakuk Traber im Gespräch zu erleben sein. Doch nicht nur in Berlin, auch in anderen Städten werden in der kommenden Zeit seine Lieder aufgeführt: Am 10. März 2019 sind in Chemnitz Reimanns Bearbeitungen "Acht Lieder und ein Fragment von Felix Mendelssohn Bartholdy …oder soll es Tod bedeuten“ zu hören. Und am 22. März 2019 werden in Karlsruhe die Drei Gedichte der Sappho für Sopran und neun Instrumente aufgeführt.

 

Werk der Woche: Aribert Reimann – Die schönen Augen der Frühlingsnacht

In die jetzige Winterzeit zaubert der neue Liederzyklus von Aribert Reimann blumige Frühlingsgefühle. Die schönen Augen der Frühlingsnacht wird am 14. Dezember 2017 im Muziekgebouw aan’t IJ in Amsterdam uraufgeführt.

Die schönen Augen der Frühlingsnacht  ist ein Kompositionsauftrag des Muziekgebouw Amsterdam und von Musik 21 Niedersachsen. Es ist speziell für die Sopranistin Mojca Erdmann und das Kuss Quartett geschrieben. Der Zyklus fußt auf Liedern des romantischen Komponisten Theodor Kirchner nach sechs Gedichten von Heinrich Heine. In ihnen dienen Bilder von keimenden und treibenden Pflanzen im Frühling als idealer lyrischer Ausdruck von Liebesgefühlen. Einen Gegensatz zu den sonnigen Gedanken bilden zwei Gedichte, die an einsame winterliche und kalte Momente in der Schneelandschaft erinnern.

Aribert Reimann – Die schönen Augen der Frühlingsnacht: Verbindung von Romantik und Gegenwart


Die Lieder von Theodor Kirchner wurden nie verlegt und sind deswegen so gut wie unbekannt. Reimann verbindet seine Bearbeitung für Singstimme und Streichquartett mit sieben instrumentalen Zwischen-, Vor- und Nachspielen. Dieses Vorgehen ist für Reimann kein Novum: Bei dem Zyklus „…oder soll es Tod bedeuten“ hatte er zuvor Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy für Stimme und Streichquartett bearbeitet und mit sechs eigenen Intermezzi verbunden. Auch dieser Zyklus wird von Mojca Erdmann und dem Kuss Quartett bei dem Konzert der Uraufführung aufgeführt. Zukünftig werden die instrumentalen Teile aus Die schönen Augen der Frühlingsnacht unter dem Titel 7 Bagatellen auch einen eigenständigen Quartettzyklus bilden.
Beim Komponieren habe ich eine Klangvorstellung im Kopf, die ich in Worten nicht ausdrücken kann, einfach weil es keine Worte dafür gibt. Ich kann natürlich einen Klang beschreiben, aber das ist nicht dasselbe. Für mich ist es das Komplizierteste und Allerwichtigste, diesen Klang, den ich in mir höre, dann zu sortieren und zu organisieren.- Aribert Reimann

Im Rahmen der Konzertreihe Musik 21 im NDR  erlebt der Zyklus Die schönen Augen der Frühlingsnacht am 16. Dezember in Hannover seine deutsche Erstaufführung. Weitere Konzerte mit Mojca Erdmann und dem Kuss Quartett folgen am 18. Dezember in Berlin und am 13. Mai 2018 in Zürich.

 

 

Werk der Woche: Aribert Reimann - Die Gespenstersonate

In Berlin ist Aribert Reimann in diesem Jahr allgegenwärtig; an allen drei großen Opernhäusern stehen Neuinszenierungen seiner Opern auf dem Programm. Am 25. Juni 2017 feiert Die Gespenstersonate an der Staatsoper im Schiller Theater in einer Inszenierung von Otto Katzameier Premiere. Die Staatskapelle Berlin spielt unter der Leitung von Michael Wendeberg im Rahmen des INFEKTION! Festivals für neue Musik.



Reimanns Oper Medea aus dem Jahr 2010 wird aktuell an der Komischen Oper gespielt. Im Herbst 2017 folgt die Uraufführung des neuen Musiktheater-Triptychons  L’invisible an der Deutschen Oper. Mit Die Gespenstersonate an der Staatsoper wird die Berliner Reimann-Reihe vervollständigt: Eine Anerkennung, die in dieser Form nur wenigen Komponisten zuteilwurde.

Wie schon Reimanns erste Oper Ein Traumspiel ist auch Die Gespenstersonate von 1984 aus einem Text des schwedischen Schriftstellers August Strindberg entstanden. Der Student Arkenholz, der die Gabe besitzt Tote zu sehen, wird von Direktor Hummel in das Haus des Obersts eingeführt, um dort um die Tochter des Hauses, das Fräulein, zu werben. Bei einem grotesken "Gespenstersouper" mit den Jahr für Jahr gleichen Gästen offenbaren sich Verstrickungen und düstere Geheimnisse. Mit der Frau des Obersts, der Mumie, die nunmehr im Wandschrank lebt, hatte Direktor Hummel einst eine Liaison, aus der das Fräulein hervorgegangen ist. Da Direktor Hummel den Mord an einem Milchmädchen begangen hat, wird er von der Mumie dazu verurteilt, sich im Schrank zu erhängen. Auch der Oberst ist nicht das, was er vorgibt zu sein: Er ist weder adelig, noch war er beim Militär. Selbst das unschuldige Fräulein ist krank und verkraftet die Realität nicht, mit der Arkenholz sie konfrontiert. Er selbst bleibt allein und desillusioniert zurück.

Die Gespenstersonate von Aribert Reimann: Eine Illusion zerbricht


Die Bewohner des Hauses geben sich den Anschein einer feinen Gesellschaft, zu der der Student Arkenholz Zugang begehrt. Innerhalb des Hauses sind die Personen in ihren Trugbildern gefangen, verdammt auf ewig in gleicher Routine zu leben. Direktor Hummel, obgleich von der Mumie letztlich zum Tode verurteilt, bricht durch die Einführung von Arkenholz mit der Tradition des immer gleichen Gespenstersoupers. Entsprechend kraftvoll und variabel ist sein musikalischer Ausdruck. Meist von tiefen Instrumenten wie Kontrabass, Fagott oder Bassklarinette begleitet, versucht er die Geschichte in seinem Interesse zu lenken. Die Mumie hingegen ist kraftlos, ihre Stimme brüchig, ihr Text immer wieder unterbrochen. Erst als sie über Hummel richtet, findet sie zu längst vergangener Vitalität zurück. Das charakteristische Instrument für den Oberst ist die Trompete. Diese soll die Illusion aufrecht erhalten, die er mit der Lüge über seinen militärischen Hintergrund geschaffen hat. Zart und zerbrechlich kommt der Sopran des Fräuleins, begleitet von der Flöte, daher. Sie ist von dem Netz aus Lügen, das sie umgibt, eingenommen und bereits fast in die Gespensterwelt entrückt.
In jeder Oper sollte jede Person ihre eigene Art des Singens haben, jeder hat sein eigenes Psychogramm, seine ihm eigene Art sich zu äußern. Das muss in der Strukturentwicklung der Singstimme angelegt sein, ebenso das musikalische Umfeld, das die betreffende Person umgibt. – Aribert Reimann

Nach der Premiere ist Die Gespenstersonate zwischen dem 27. Juni und dem 9. Juli noch in sechs weiteren Aufführungen auf der Werkstattbühne an der Staatsoper im Schiller Theater zu erleben.

 

Foto: © Wolfgang Runkel (Inszenierung der Oper Frankfurt)

Werk der Woche - Widmann/Mendelssohn: Andante

Das klassische Repertoire für Klarinette und Orchester ist überschaubar. Neben den Solokonzerten von Mozart und Weber wurden erst wieder im 20. Jahrhundert bedeutende Werke für das Instrument geschrieben. Der Klarinettist und Komponist Jörg Widmann erweitert nun das Repertoire an Konzertstücken, die er als Solist präsentieren kann. Er tritt am 15. März 2016 gemeinsam mit dem Irish Chamber Orchestra auf, um die Uraufführung seiner Transkription des Andante aus der Klarinettensonate von Felix Mendelssohn Bartholdy zu dirigieren und auch selbst zu spielen.

Mendelssohn schrieb seine Klarinettensonate in Es-Dur 1824 als gerade 15-Jähriger. Die Gestaltung des Mittelsatzes im Tempo Andante erinnert an den Aufbau eines schlichten Liedes. Widmann erweitert diesen Mittelsatz zu einer Version für Streichorchester, das neben der Soloklarinette auch um eine Harfe und eine Celesta ergänzt ist. Im Uraufführungskonzert wird die Harfe von Geraldine O’Doherty und die Celesta von Igor Levit gespielt. Andante ist Aribert Reimann gewidmet, der vor Kurzem seinen 80. Geburtstag feierte. Die beiden Komponisten verbindet die gemeinsame Verehrung für Felix Mendelssohn Bartholdy.

Widmann komponiert eine Hommage an Mendelssohn


Die Klarinette eröffnet das Andante mit einem gesanglichen Thema im Piano, das im Verlauf der Phrase zu einem Pianissimo reduziert wird. Nach einer klassischen Vorstellung des achttaktigen Themas setzt das Orchester ein, ebenfalls sehr leise und zu großen Teilen im Pizzicato. So sind Harfe und Streichorchester klanglich aneinander orientiert und bilden einen perlenden Klangteppich, über dem sich die Melodie der Klarinette entfaltet. Die Celesta setzt erst später ein und hat nur wenige und vergleichsweise kurze Auftritte. Dafür sticht sie aus den übrigen Instrumenten heraus: mit schnellen Sechzehntelläufen im Mezzoforte hat sie einen eindrucksvollen ersten Einsatz. Der Charakter des Andante ist geprägt von gesanglichen Phrasen und Variationen im Tempo. Abgeschlossen wird das Werk mit einem g-Moll-Akkord, der ein zweites Mal wiederholt wird und so als Echoton im Pianissimo nachklingt.
Schon lange hege ich den Traum, diese Wunder-Musik für Klarinette, Streichorchester, Harfe und Celesta zu bearbeiten. Dieser Wunsch hat sich nun im Rahmen des Mendelssohn-Projekts des Irish Chamber Orchestra erfüllt.
Widmann

Nach der Uraufführung in Limmerick spielt das Irish Chamber Orchestra Widmanns Komposition am Folgetag auch in Dublin. Die deutsche Erstaufführung findet im Rahmen des Heidelberger Frühlings am 20. April in der Stadthalle Heidelberg statt.

Foto: Marco Borggreve

Werk der Woche - Aribert Reimann: Metamorphosen

Der Komponist Aribert Reimann wird am 4. März 80 Jahre alt. Seine Metamorphosen über ein Menuett von Franz Schubert (D 600) für zehn Instrumente sind in dieser Woche an zwei Orten zu hören: Das Ensemble Pro Artibus Hannover spielt das Werk am 1. März in der Städtischen Galerie KUBUS in Hannover, ein Kammerensemble des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin führt es am 4. März in einem Geburtstagskonzert in der Villa Elisabeth in Berlin auf.

Als Vorlage für Metamorphosen diente das Menuett in cis-Moll für Klavier von Schubert. Dieses zeichnet sich durch kontrapunktische Gestaltung und einen Charakter im barock-festlichen Stil aus. Es wurde allerdings erst im Jahr 1897, knapp 70 Jahre nach Schuberts Tod, veröffentlicht. Offenbar hatte Schubert demnach nicht geplant, das Menuett zu publizieren. Es veranschaulicht jedoch die Arbeitsweise des Komponisten: musikalische Einfälle hielt der Komponist nur selten in Skizzenform fest. Stattdessen verarbeitete er sie direkt in Kleinformen wie hier zum Beispiel einem Menuett in einer ersten und oft komprimiert wirkenden Gestaltung. Später entwickelte er einige diese Einfälle in umfangreicheren Werken und auch für größere Besetzungen weiter.

Reimann entwickelt Schuberts Idee weiter


Reimann hat sich in seinen Metamorphosen der Ausarbeitung von Schuberts Einfällen angenommen, indem er das Menuett in eine Fassung für Bläserquintett und Streichquintett übertragen hat. Er belässt es aber nicht bei einer reinen Transkription, sondern entwickelt aus Schuberts Tonsprache eigene musikalische Elemente. Auf die zu Beginn wörtlich zitierten acht Anfangstakte folgen Variationen, die sich nach und nach immer weiter von der Vorlage entfernen. Die Instrumentengruppen stehen sich dabei nur selten blockhaft gegenüber. Stattdessen bilden sie vielfältige Kombinationen von kurzen Soli und Duetten, die sich mit polyphonen Tutti abwechseln.
An der Auseinandersetzung mit Werken anderer Komponisten habe ich wahnsinnig viel gelernt. Vor allem, was die Polyphonie des Klaviersatzes betrifft, die ja in der Neuen Musik eine andere Rolle spielt als zuvor. – Reimann

Im Geburtstagskonzert in der Villa Elisabeth in Berlin führen Mitglieder des Deutsche Symphonie-Orchesters außerdem drei weitere Werke von Aribert Reimann auf: Adagio zum Gedenken an Robert Schumann für Streichquartett, Solo für Oboe und Solo für Violoncello.

Foto: © Schott Music Promotion / Gaby Gerster