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Peter Eötvös (1944-2024)

„Ich möchte kein Stück wie das andere“ 

Der Komponist und Dirigent Peter Eötvös ist tot, er starb am 24.03.2024 im Alter von 80 Jahren in Budapest. Dies teilte seine Familie am Sonntag mit. Mit ihm verliert die Musikwelt einen der meistgespielten Opernkomponisten unserer Zeit. 

 „Man wird durch jede Form von Kultur geprägt. Und ich wäre glücklich, wenn ich am Ende meines Lebens das Gefühl hätte, die Welt durch mich hindurchgelassen zu haben und dass etwas hängen geblieben ist in mir wie in einem Sieb.“  (Peter Eötvös) (1) 

Weniger als ein Jahr hat Peter Eötvös in Transsilvanien verbracht, wo er am 2. Januar des Kriegsjahres 1944 geboren wurde, bevor die Familie vor der anrückenden Sowjetarmee nach Westen fliehen musste. Dennoch erwähnt Eötvös die alte Kulturlandschaft Transsilvanien (oder Siebenbürgen) gern als seine wahre Herkunft: „Ich fühle, dass ich dorthin gehöre, auch was Musik angeht. […] Die Weltoffenheit und die multikulturelle Grundeinstellung dieser Gegend haben wir wohl in unseren Genen. Mehrere Völker haben dort zusammengelebt, die Kulturen sich gegenseitig befruchtet.“ (2) Obwohl die ehemals ungarische Region nach dem Ersten Weltkrieg dem Königreich Rumänien zufiel, haben Komponisten wie Eötvös oder sein älterer Kollege György Ligeti Siebenbürgen immer als Ankerpunkt für ihre ungarische Identität, aber auch als Symbol einer generellen Weltoffenheit verstanden – und damit als Gegenbild zum immer wieder aufflammenden ungarischen Nationalismus. 

„Man wird durch jede Form von Kultur geprägt“, sagt Eötvös – nur muss man dafür auch die Offenheit und Experimentierlust besitzen, mit der er sein Interesse an den unterschiedlichsten Kulturen in nahezu jedem seiner Werke permanent erweitert. Durch die Auftritte mit dem Stockhausen-Ensemble bei der Weltausstellung in Osaka 1970 lernte er die japanische Kultur kennen, die seine Musik durch Momente der Stilisierung und Ritualisierung, durch die Präzision von Gesten und Phrasen beeinflusst – aber auch inhaltlich: etwa in seiner ersten Oper Harakiri, die auf den spektakulären Seppuku-Tod des Dichters Yukio Mishima anspielt, oder in den beiden Musiktheaterstücken nach dem Tagebuch der japanischen Hofdame „Lady Sarashina“ aus dem 11. Jahrhundert. In seiner bislang erfolgreichsten Oper Tri Sestri (nach Tschechow) sucht Eötvös die Nähe zur russischen Kultur, das Schlagzeugkonzert Speaking Drums wurde durch indische und afrikanische Perkussionstraditionen inspiriert. Für sein Orchesterstück The Gliding of the Eagle in the Skies, einen Auftrag des Baskischen Nationalorchesters, beschäftigte er sich mit baskischer Folklore, das dritte Violinkonzert Alhambra für die Geigerin Isabelle Faust kreist um spanische und arabische Musik. Die Beispiele für die kulturelle „Durchlässigkeit“ seiner Musik ließen sich fortsetzen mit Eötvös’ Begeisterung für den Jazz (etwa im Trompetenkonzert Jet Stream) oder seiner sentimentale Liebe zum französischen Chanson, das seine Oper Le Balcon nach dem Theaterstück von Jean Genet die eigene Note verleiht. 

Bei all diesen „internationalen“ Einflüssen auf sein Werk versteht sich Eötvös im Kern doch als ungarischer Komponist – nicht zuletzt im Bewusstsein, dass die Kultur seines Landes durch die Isolation der ungarischen Sprache eine gewisse Einzigartigkeit im europäischen Kontext behauptet. Sein erstes Tonbandstück Mese (Märchen) von 1968 verarbeitet Formeln aus 99 ungarischen Märchen, in späteren Werken wie dem Klavierkonzert CAP-KO (2005) und seinen verschiedenen Versionen für Kammerensemble (Sonate per sei) und Klavierduo (Konzert für zwei Klaviere) finden sich direkte Huldigungen an Béla Bartók, dessen Klangkosmos Eötvös als seine „musikalische Muttersprache“ bezeichnet. Tänze aus Siebenbürgen dienen im großen Orchesterwerk Atlantis von 1995 als Symbol einer verschwundenen Kultur, mit dem Eötvös auch die Hoffnung auf Neues verbindet. Interessanterweise hat der Komponist erst in der  jüngsten seiner dreizehn Opern, der pessimistischen Tragikomödie Valuska (2023), ein ungarisches Libretto seiner Frau Mari Mezei vertont, während die Texte seiner vorangegangenen Bühnenwerke in anderen Sprachen verfasst wurden. 

Ungarns Isolation äußerte sich für den jungen Komponisten allerdings auch in politischer Hinsicht. Eötvös, der nach der Scheidung seiner Eltern mit der Mutter im nordungarischen Miskolc aufwuchs und als 14-jährige Frühbegabung von Zoltán Kodály an der Budapester Musikakademie aufgenommen wurde, lernte die westliche Moderne und den Jazz nur über Kurzwellensender kennen, die von den kommunistischen Behörden gestört wurden. Doch der Reiz des Verbotenen spornte die Lust auf neue Erfahrungen an: 1965 besuchte Eötvös erstmals die Darmstädter Ferienkurse, ein Jahr später kam er mit einem deutschen Auslandsstipendium nach Köln, studierte bei Bernd Alois Zimmermann, arbeitete als Korrepetitor an der Kölner Oper, wurde schließlich als Keyboarder Teil des Stockhausen-Ensembles und technischer Mitarbeiter im elektronischen Studio des WDR. Die Vision einer elektronisch dominierten Musik, die damals viele Komponisten im Stockhausen-Kreis umtrieb, verwirklichte sich bekanntlich nicht in der erträumten Radikalität. Aber sie hatte Folgen für die spätere Musik von Eötvös: in der Beteiligung elektronischer Verfahren und Zuspielungen, aber auch im Klangbild. 

Zunächst aber trat der Komponist Eötvös in den Hintergrund, um dem Dirigenten den Vortritt zu lassen. Als Musikchef des Ensemble Intercontemporain in Paris (1978-1991) bzw. des Rundfunkkammerorchesters Hilversum und ständiger Gastdirigent von Orchestern in London, Budapest, Baden-Baden/Freiburg und Göteborg lernte Eötvös die Tücken der Einstudierung neuer Musik und die Logistik der Probenorganisation zu beherrschen – und er bekam ein untrügliches Gefühl für die Kommunikation mit den Musiker:innen, die sich am Dirigentenpult in unbedingter Kollegialität äußert, in den Partituren als Realisierung seiner musikalischen Visionen über das technisch Machbare. Und es ist faszinierend, die Filmmitschnitte seiner Meisterkurse in aller Welt zu verfolgen, um im Sinne von Eötvös die Geburt der Musik aus dem Geist der Fantasie, des Handwerks und der Disziplin zu begreifen. 

Anders als sein Mentor Pierre Boulez, der seiner Dirigenten- und Funktionärskarriere nur noch wenige Kompositionen abtrotzen konnte, stürzte sich Eötvös nach dem Abschied vom Ensemble Intercontemporain mit 47 Jahren trotz anhaltender Dirigiertätigkeit in ein kompositorisches Werk ohne Parallelen in der Gegenwart. Schon in Budapest hatte er Musik für den Film und das Sprechtheater komponiert; jetzt kanalisierte er seine Theaterinteressen in einer Reihe großer Opernprojekte, die meist nach Vorlagen lebender Autoren entstand – darunter Gabriel García Márquez (Love and Other Demons), Tony Kushner (Angels in America), Albert Ostermaier (Paradise reloaded [Lilith]), Roland Schimmelpfennig (Der goldene Drache), Alessandro Baricco (Senza sangue), Jon Fosse (Sleepless) oder László Krasznahorkai (Valuska). Dabei gehört für Eötvös die Unwiederholbarkeit zum Prinzip: „Sie sind sehr bewusst verschieden, und das bin ich. Ich möchte kein Stück wie das andere, mit einer einzigen Thematik. Jede Oper muss eine eigene Sprache, eine eigene Welt, eine eigene stilistische Klangsprache haben.“ (3) 

Seit der Mitte der 1990er Jahre bildet die Oper das Gravitationszentrum im Œuvre von Peter Eötvös, um das sich eine Vielzahl von Kammer- und Ensemblestücke, Solokonzerten und Orchesterwerken anlagert – manchmal in direkter Beziehung zu den Bühnenwerken, oft aber mit Inspirationen aus ganz anderen Winkeln der künstlerischen Fantasie. Das kann der erste bemannte Raumflug durch Juri Gagarin (Kosmos) sein oder der Absturz der Columbia-Raumfähre im Jahr 2003 (1. Violinkonzert Seven), die Betrachtung eines Gemäldes von Kasimir Malewitsch (Reading Malevitch), das Nordlicht über Alaska (Aurora), die Figur des ungarischen Pianisten György Cziffra (Klavierkonzert Cziffra Psodia), der mythische Gesang der Sirenen (The Sirens Cycle) oder eine politische Anklage wie im Orchesterstück Alle vittime senza nome von 2016, gewidmet den unzähligen Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrunken sind. Für Eötvös ist die Vielfalt der Ansätze Notwendigkeit. „Ich lebe in der Zeit, in der all das passiert ist“, sagt er und zieht aus der Gleichzeitigkeit der Ereignisse die ästhetische Berechtigung für die Gleichwertigkeit unterschiedlicher musikalischer Stile: „Ich definiere mich als Kontinuum und fühle mich als Teil der Musikgeschichte. […] Ich liebe die Tradition, ich liebe die Avantgarde, ich liebe die asiatische Musik genauso wie Miles Davis.“ (4) 

Drei Jahrzehnte hat Eötvös in Köln, Paris und Hilversum gelebt. Seit  2004, dem Jahr des ungarischen Beitritts zur EU, wohnt er wieder in Budapest, im selben Jahr hat er die private „Peter Eötvös Contemporary Music Foundation“ gegründet, mit der er die Idee seines 1991 etablierten „Internationalen Eötvös Instituts“ weiterentwickelt hat. Die Idee hinter beiden Stiftungen ist so einfach wie sinnvoll: Weil an den Musikhochschulen zwar viele Komponist:innen ausgebildet werden, aber die Realisierung zeitgenössischer Musik in der Ausbildung oft zu kurz kommt, bringt Eötvös junge Musiker:innen, Musikwissenschaftler:innen, Dramturg:innen und Dirigent:innen, aber auch Vertreter:innen anderer Kunstsparten zusammen, um spezielle Projekte umzusetzen und an das Publikum von Morgen zu vermitteln. Das Ziel ist, am Ende die Unterscheidung zwischen historischer und zeitgenössischer Musik überhaupt aufzuheben: Für die Künstler:innen von heute sollte es nur Musik ohne stilistische Scheuklappen oder Hierarchien geben, die sie auf die bestmögliche Art realisieren. Seit 2013 ist die Eötvös-Stiftung Teil des „Budapest Music Center“, eines Gebäudes im Herzen der ungarischen Hauptstadt mit einem Konzertsaal mit 300 Plätzen, Versammlungsräumen und einer gut ausgestatteten Bibliothek. So ist der Weltbürger Peter Eötvös wieder in seine kulturelle Heimat Ungarn zurückgekehrt, um ihre neue, ideelle Impulse für die Zukunft zu geben. 

Michael Struck-Schloen 
 

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Anmerkungen 

(1) Klangbildaufnahmen wie von einem Fotografen. Wolfgang Sandner im Gespräch mit Peter Eötvös, in: Identitäten – Der Komponist und Dirigent Peter Eötvös. Symposion 2004, Alte Oper Frankfurt/M., hrsg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2005, S. 62 

(2) ebd., S. 59 

(3) ebd., S. 65 

(4) Gespräch zwischen Peter Eötvös und Wolfgang Schaufler zur Uraufführung von Halleluja bei den Salzburger Festspielen, Magazin der „Freunde der Salzburger Festspiele“, März 2016 

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